An den Rändern des Widerstands


Anmerkungen zu einer Recherchefahrt an den Niederrhein:

Die Geschichte beginnt im Jahr 1660, als Anna von Preußen Johann Sigismund von Brandenburg heiratet und somit die Mark Kleve, die Anna mit in die Ehe bringt, dem Kurfürstentum Brandenburg zugeschlagen wird. Vielleicht beginnt die Geschichte auch wesentlich früher, etwa zur Zeit der Völkerwanderung. Aber ganz genau läßt sich das nicht sagen, genauso wenig, wie sich überhaupt Anfang und Ende von allem bestimmen läßt. Jedenfalls: Der Barockmensch Johann Moritz von Nassau-Siegen (1604-1679), kunstverständig und weitgereist und vom sogenannten Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620-1688) als Statthalter in Kleve eingesetzt, wirbelt noch mächtig in dem beschaulichen Städtchen Kleve Staub auf durch seine von ihm in Auftrag gegebenen Tempelchen, Athene-Statuen und weitläufigen Parkanlagen (mit enormen Sichtachsen), die die Residenzstadt Kleve umgeben sollten. Gleich neben einer dieser Landschaftsgärten in der Tiergartenstraße liegt das „Kurhaus“, in dem Joseph Beuys, Sohn des Städtchens, 1957 im Erdgeschoss des Hauses sein erstes Atelier einrichtete. Das ist heute noch so in seiner alten Form zu besichtigen. Und im ersten Stock sind Werke von Ewald Mataré (1887-1965), Beuys’ Lehrer an den Düsseldorfer Kunsthochschule, untergebracht.

Bergaufwärts, am oberen Ende der Fußgängerzone, trifft man auf die Stiftskirche aus dem 12. Jahrhundert. Dieser ist, im wahrsten Sinn des Wortes vorgelagert, das Kriegerdenkmal eines tot daliegenden Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg des von Beuys verehrten Wilhelm Lehmkuhl (1881-1919), und gleich gegenüber steht die Schwanenburg, Wahrzeichen der Stadt und ehemals Sitz der Herzöge von Kleve im 11. Jahrhundert. Manche bringen auch den Ritter Lohengrin aus der Parzival-Sage mit der Burg in Verbindung.

Eine gute Zugstunde entfernt liegt die Stadt Krefeld, in der Beuys geboren wurde und dort die ersten Monate seines Lebens verbrachte. Die Stadt beherbergt das Kaiser-Wilhelm-Museum mit einer Menge feiner Kunst aus dem 20. Jahrhundert. Barock ist in der Stadt keiner zu finden, jedenfalls nicht auf den ersten Blick, dafür viel preußischer Neobarock inklusive einem prächtigen Bahnhofsgebäude. So oder so: Beuys und der Barock, eine spannende Liaison. Das gewaltige Ausgreifen des Preußentums muß auf ihn eingewirkt haben, anders ist das nicht vorstellbar. Alles basierend auf einer reinen Geldheirat zweier Hochadeliger aus dem 17. Jahrhundert!

Aber nicht genug, dass der Große Kurfürst den kunstsinnigen Statthalter installiert hat! Er hat auch den in Frankreich nicht mehr erwünschten Hugenotten Einreise gewährt, nachdem König Ludwig XIV. das Edikt von Nantes Heinrichs IV. (1598) im Jahre 1685 aufgekündigt hatte, in dem den Hugenotten freie Religionsausübung gestattet worden war. Und hier nun liegt, was das Ursprungsthema und die Überschrift all meiner Recherchebestrebungen mit dem Titel „Widerstand in Paris 1944“ betrifft, verortet: In der Pariser Rue des Grands Augustins im Quartier Latin, nahe dem Seine-Ufer, auf 100 Quadratmetern. Hier wurde im Jahr 1610, kurz nachdem Heinrich IV. einem Attentat zum Opfer gefallen war, der neue König, sein Sohn, der 9jährige Ludwig XIII. ausgerufen. Und gleich gegenüber, nur 20 Meter entfernt auf der anderen Straßenseite, befand sich in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts das Atelier von Picasso, in dem er sein „Guernica“ malte. 100 Quadratmeter höchster Geschichtsträchtigkeit! Hier soll mein für Sommer 2024 geplantes Stück, das vom Widerstand deutscher Wehrmachtsoffiziere vom 20. Juli 1944 in Paris handelt, spielen. Dem war alle Recherchearbeit der letzten Jahre untergeordnet, und ich bin mir sicher, dass darin auch Beuys und der preußische Barock seinen Platz haben wird!


Stefan Kastner wurde in München geboren. Er studierte Gesang am Richard-Strauss-Konservatorium. Er gastierte als Sänger u.a. an den Theatern Freiburg, Fürth, Heilbronn und der Staatsoper Berlin. Seit 2008 ist er vor allem als Autor und Regisseur tätig. Sein Stück „Die Sphinx von Giesing“ wurde 2020 zu den Bayerischen Theatertagen in Memmingen eingeladen.