Jerzy Grotowski


eine Zusammenstellung von Tabea Tangerding, ohne Anspruch auf wissenschaftliche Vollständigkeit

Biografische Übersicht

11. 11. 1933in Rzeszów, Polen geboren
1951 – 1954Studium an der Staatl. Schauspielschule Krakau
1955 – 1956Regiestudium am Institut für Theaterkunst in Moskau
1959Direktor des Theaters der 13 Reihen in Opole, baute dieses Theater zum Theaterlaboratorium aus mit Ludwik Flaszen Inszenierungen, u.a. Orpheus (nach Cocteau), Kain (nach Byron), Faust (nach Goethe)
1965Theaterlaboratorium von Opole nach Breslau verlegt
1962 – 1969neue Arbeitsperiode: Konzentration auf die Arbeit mit dem Schauspieler im Mittelpunkt steht das körperliche Theater
Forschungen zur Schauspielkunst „Das Arme Theater“
1966 – 1975erste Auslandstourneen nach Westeuropa und Amerika machen Grotowskis Arbeit weltberühmt, offizielle Anerkennung seiner Arbeit (verschiedene Preise und Auszeichnungen, Ehrendoktortitel der Universität Pittsburgh)
u.a. Akropolis (1962 nach Wyspianski), Dr. Faustus (1963 nach Marlowe), Der standhafte Prinz (1965 nach Calderon und Slowacki) Apocalypsis cum Figuris (1968 nach Texten aus der Bibel, Dostojewski, Slowacki, T.S. Eliot und Simone Weil)
1970Exkursion nach Indien und Kurdistan letzte rein theatralische Tournee (Mittlerer Osten)
Abwendung vom Theater im Sinne einer Aufführung neue Forschung: „Das Paratheater“
 nach 1975 keine Aufführungen mehr; Umsetzung der paratheatralischen Ideen in „Special-projects“
Laboratorium: Institut für Experimente auf dem Gebiet der Kultur „Theater der Quellen“ (Erforschung und Vergleich archaischer Kulturen und Suche nach Gemeinsamkeiten)
1982verläßt Polen aus politischen Gründen; Lehrauftrag in den USA
1985Leitung des Theaterzentrums „Centro di lavoro“ in Pontederra, Italien
Objektives Drama
Jan. 1999im Alter von 65 Jahren in Pontederra gestorben

Das Arme Theater

Was ist Theater? Was kann Theater, was Film und Fernsehen nicht können?

Synthetisches Theater

Synthese von Literatur, Malerei, Architektur, Beleuchtung, Darstellung ständige Erweiterung der technischen Mittel opulentes Darstellungstheater bezeichnet Grotowski als „Reiches Theater“

Armes Theater

asketisches Theater: Reduktion auf das Wesentlichste; auf das, was sich zwischen dem Schauspieler und dem Zuschauer abspielt

  1. Theater kann ohne Bühnenbild, Kostüme, Schminke, Bühnenbeleuchtung auskommen; Reduktion auf mindestens einen Schauspieler und einen Zuschauer aber Theater ist auf die unmittelbare Kommunikation zwischen Schauspieler und Publikum angewiesen der leere Raum wird durch den Schauspieler lebendig / gestaltet
  2. Aufhebung der klaren Trennung zwischen Bühnen- und Zuschauerraum, um das Verhältnis zwischen Zuschauer und Schauspieler zu intensivieren
    direkter Kontakt durch Stückauswahl, räumliche Beziehung, schauspielerische Kraft;
    – Schauspieler kann unter den Zuschauern spielen, sie nicht beachten, durch sie hindurchsehen – Zuschauer können separiert werden, z.B. hoher Zaun oder sie nehmen an der Handlung teil, wenn der ganze Raum als Schauplatz verwendet wird (Fausts Abendmahl)
    – Art Ritual, denn der Zuschauer sieht sich die Aufführung nicht nur an, sondern nimmt daran teil
    – intimer Charakter der Aufführung wird gewahrt, da Grotowski nur ein ausgewähltes Publikum von nie mehr als 50 Zuschauern zugelassen hat
  3. Verzicht auf Bühnentechnik (Scheinwerfer und Lichttechnik)
  4. Musik und Geräusche werden nur durch die Stimme des Schauspielers erzeugt alle Requisiten sind von Anfang an auf der Bühne (nur angedeutet, können verschieden Formen annehmen)
  5. Hervorhebung des Ausdrucks durch den ganzen Körper – körperliches Theater
  6. Voraussetzung ist ein umfassendes körperliches Training Improvisation als Technik zum Szenen erarbeiten (Selbstentwicklung) Training in Akrobatik, Atemübungen, Yoga, Pantomime, Elemente des östl. Theaters (Peking-Oper, No-Theater, Ind. Kathakali Theater)
    Konzentration auf die Bewegung
    Körper und Bewegung
    Körper und Raum
    Raum und Bewegung
    Bewegung als Gesamtausdruck: Förderung von Konzentration und Aufmerksamkeit
    Überwindung der eigenen körperlichen Grenzen
  7. Ethos des Schauspielers: Lehre vom „heiligen Schauspieler“
    Suche nach der Wahrheit / Selbstoffenbarung / Ablegen der Maske der Schauspieler spielt nicht die Rolle eines anderen, sondern er ist er selbst und der andere entsteht in einem schöpferischen Prozeß
    Spontaneität und Disziplin stärken sich gegenseitig; die Überwindung der eigenen körperlichen Grenzen vollzieht sich im „totalen Akt“ man soll sein innerstes Wesen zeigen, seine inneren Impulse, sich offenbaren und sich nicht von Motiven wie Macht, Erfolg, Ansehen, Eitelkeit leiten lassen
  8. neues Textverständnis: über die non-verbale Improvisation hin zum Text erst Handlung ohne Worte, um den Körperausdruck zu steigern der Text fließt zu einem sehr späten Zeitpunkt in die Arbeit ein Grotowski lehnt Textinterpretation kategorisch ab (keine Verdoppelung der Literatur, d.h. kein Illustrieren der Vision des Verfassers)
  9. Keine Unterhaltung der Zuschauer, um angebliches „Kulturbedürfnis“ zu befriedigen Interesse am Zuschauer, der echte geistige Interessen besitzt, der sich durch die Konfrontation mit der Aufführung weiter entwickeln möchte „Selbstanalyse“ Suche nach der Wahrheit soll sich auf den Zuschauer übertragen
  10. Traditionen, an die das Theaterlaboratorium anknüpft:
    1. Stil: Elemente des antiken Theaters (Verbindung von Rede, Gesang, Tanz), der mittelalterliche Mysterienspiele und des spanischen Barocktheaters Streben nach der Einheit von Musik, Tanz, Poesie sollte eine Katharsis herbeiführen, wobei der Tanz die führende Rolle übernahm
    2. Stanislawski: Vorbild beim Experimentieren auf dem Gebiet der Schauspieltechnik
    3. Reduta: ethische Tradition des Theaterlaboratoriums

Das Paratheater (1969-1975)

Theater als Lebensform

„project-events“
„active culture“: Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Kultur
passiv: Bildungsbürger

jeder Anwesende nimmt am paratheatralischen Treffen aktiv teil
Treffen in natürlicher Umgebung wie Wald, Gebirge beinhalten lang anhaltende Tätigkeiten mit Stimme und Körper (z.B. singen, tanzen, laufen) tags wie nachts
permanente Improvisation: keine Vorschriften, bis auf bestimmte Grundregeln wie z.B. Respekt vor sich selbst und dem anderen gegenüber, keine Gewaltanwendung, keine Gespräche führen, aufmerksam und offen sein
Steigerung von Konzentration und Aufmerksamkeit

Ziel

  • Suche nach veränderten Bewußtseinszuständen
  • Provokation von Zuständen, in denen man nicht mehr spielt, sondern sein wahres Wesen zeigt
  • Herstellung von Grenzsituationen
  • Experimentieren mit dem Umgang von Energie (ungeahnte Kräfte im Körper wecken)
  • Kampf gegen die Routine, Konkurrenzdenken, Erfolgsdenken , Suche nach der Wahrheit des Lebens über das Theater hinaus

Theater der Quellen (1976 – 1982)

ursprüngliches Theater

Grotowski studierte ursprüngliche Kulturen, ihre rituellen und religiösen Aufführungen und eignete sich diese Techniken an, um mit ihnen zu experimentieren (aus Haiti, Bali, Japan, Indien, Südamerika)

das Studium anderer ist eine Phase des Selbststudiums und umgekehrt

Ziel

Suche nach dem Anfang beginnt im Hier und Jetzt im Finden einfacher Handlungen
Verbindung von rituellen und zeremoniellen Praktiken Erforschung des Sinns der Techniken in einer transkulturellen Beziehung (interkultureller Kontext)

Objektives Drama

Erfassen von gültigen Regeln
Weiterführung des Theaters der Quellen
rationale Betrachtung der Mythen
Konfrontation mit feststehenden Werten
Analyse ritueller Aufführungen in Relation mit den Wissenschaften wie Anthropologie, Soziologie, Ethnologie